Gladiatoren vor dem hinduistischen Pantheon, Webtücher mit komplizierter Logistik und Zucker, der auf die Nerven geht
nein, das ist kein Déja-vu – ich bin in Patan, einer Kleinstadt in Gujarat und nicht zu verwechseln mit der fast gleichnamigen Stadt in Nepal, von der ich vor ein paar Monaten berichtet habe. Patan ist eine historische Stadt mit einer mehr als tausendjährigen Geschichte, aber leider fast ohne historische Bausubstanz, da es Anfang des 13. Jahrhunderts von einer muslimischen Armee aus Delhi vollständig geschleift wurde.
Allerdings hat sich durch einen Zufall einer der schönsten und größten Stufenbrunnen Indiens erhalten. Dieses spektakuläre Bauwerk war völlig verschlammt und in Vergessenheit geraten, wurde aber seit 1960 vom Archeological Survey of India vorbildlichst konserviert und bedachtsam restauriert. Anders als die praktisch vollständig intakten Stufenbrunnen Amdavads ist der Rani ki Vav (der „Stufenbrunnen der Königin“) sofort als Ruine zu erkennen, was dem grandiosen Eindruck allerdings keinen Abbruch tut.
Eine breite Haupttreppe führt etwa 20 m tief in den Boden; wegen des Fehlens von Zwischenstockwerken ist die ganze Anlage sehr hell, und die gut sichtbaren, überreich dekorierten Wände wirken fast so bildergewaltig wie die etwa gleich alten Tempel von Khajuraho. Man wähnt sich fast in einem Amphitheater, in dem man als Gladiator vor den Augen des gesamten hinduistischen Pantheons auftreten muß. Viele der Statuen sind erstaunlich gut erhalten und zeugen von hoher Kunstfertigkeit: Die Waffen der vielarmigen Göttin Durga sind so filigran gearbeitet, daß sie beim Hinsehen abzubrechen drohen, und die von eberköpfigen Varaha gerettete Erdgöttin Prithvi greift diesem vertrauensvoll an die Schweinsnase. Außer Varaha sind noch weitere Inkarnationen Vishnus zu sehen, darunter auch die selten dargestellten Buddha und Kalki.
Gujarat ist für das hohe Niveau seiner Textiltraditionen bekannt. Hier in Patan gibt es eine in Indien einzigartige Färbe- und Webtechnik namens Patola, die sonst nur noch in einem einzigen Dorf auf Bali gepflegt wird: Schuß- und Kettfäden werden vor dem Verweben so gefinkelt eingefärbt, daß sich nach dem Weben ein Muster ergibt. Der offensichtliche Vorteil dieser komplizierten Logistik ist, daß die solcherart gewebten Tücher von beiden Seiten exakt gleich aussehen. Aus praktischen Gründen sind diese Muster auf horizontale und vertikale Elemente beschränkt, so daß die fertigen Gewebe irgendwie „verpixelt“ aussehen, aber das tut der Bewunderung für diese raffinierte Technik keinen Abbruch. Die Preise beginnen bei etwa 30 € für ein taschentuchgroßes Verschnittstück, und reichen bis zu mehreren tausend Euro für einen ganzen Seidensari. Nur ganz wenige Familien stellen solche Patola-Stücke her, aber deren Auftragsbücher sind so gut gefüllt, daß sie auf besichtigende Touristen keinerlei Druck zum Kauf ausüben müssen.
Weitere Sehenswürdigkeiten führen meine beiden Reiseführer nicht mehr auf, aber damit liegen sie falsch: Der alte Teil von Patan hat ein etwas unspektakuläres aber liebenswertes Erscheinungsbild und bietet zumindest einen ganz sehenswerte Jain-Tempel. Eine Einrichtung namens Sri Patan Panjrapol brachte mich zum Schmunzeln: Hier pfegen Hindus diverse herrenlose Tiere, darunter Kühe, Tauben, Wasserbüffel und Kaninchen. Man könnte das Panjrapol fast für eine Art Streichelzoo halten, wäre der Boden nicht fast durchgehend mit Exkrement bedeckt.
Richtig erstaunlich ist jedoch die Stadtmauer, die aus dem 15. Jahrhundert stammt und in stark schwankender Qualität erhalten ist. Der untere Teil ist aus Stein gemauert, und darauf kam ein Ziegelaufbau, was ingsesamt etwa 8 m Höhe ergibt. Unter die großen Steinquader für die Mauer haben sich auch einige Steine mit hinduistischen oder jainistischen Symbolen gemengt – ein sicheres Zeichen, daß die Mauer von Muslimen erbaut wurde, die die Tempel der Stadt als Steinbruch mißbrauchten.
Die Mauer wird von mehreren Toren durchbrochen, an denen mittlerweise wenigstens einige Restaurierungsarbeiten laufen. Entlang ihrem Verlauf verfällt sie allerdings ganz ungehindert, und das läßt sich auch nicht leicht ändern: Auf der Innenseite hat sich inzwischen eine nur von den Toren unterbrochene Reihe von einfachen Behausungen gebildet, deren Bewohner zwar formalerweise als städtische Bürger gelten müssen, aber in Wirklichkeit das Leben der dörflichen Landbevölkerung leben. Überhaupt ist es erstaunlich, wie ländlich Patan außerhalb des Stadtkernes, aber noch innerhalb der Stadtmauer wirkt – der Ort scheint in den letzten Jahrhunderten beträchtlich geschrumpft zu sein.
Nach diesem Loblied auf Patan muß ich nun leider auf den Pferdefuß zu sprechen kommen: Die Küche in Gujarat ist, naja, etwas merkwürdig und hat die zweifelhafte Auszeichnung, mir als einzige indische Regionalküche nicht besonders zu schmecken. Zwar ißt man in Gujarat grundsätzlich nicht viel anders als in den Nachbarstaaten, aber die Gujarati haben die absonderliche Eigenschaft, alles zu zuckern.
In Amdavad bewahrten mich die zahlreichen Muslim-Restaurants und die auf Punjabi-Küche spezialisierten vegetarischen Lokale davor, allzuoft in den Zucker beißen zu müssen. In Patan herrschen aber eher die typisch gujaratischen Verhältnisse, und ich habe noch kein einziges Non-Veg-Restaurant gesehen: Gujarat hat den höchsten Vegetarieranteil von allen indischen Unionsstaaten. Der Staat ist ja zugleich Hochburg des Jainismus als auch Heimat von Mahatma Gandhi, der Zeit seines Lebens in der vegetarischen Ernährung einen Schritt zur moralischen Vervollkommnung des Menschen sah. Ebenfalls als Verbeugung vor Gandhi lassen sich übrigens die strengen Anti-Alkohol-Gesetze in Gujarat deuten.
Während ich gegen vegetarisch wirklich nichts einzuwenden habe, geht mir der Zucker schwer auf die Nerven. Er ist überall drin: In den LinsenHerkunft Kleinasien Beschreibung Auch die Linse ist bereits seit rund..., in den KartoffelnÄdäppel, Erdapfel, Erdbirne, Erdling, Grumbeer; Eng: potato; Franz: pomme de..., im Gemüsecurry und bald auch in meinen Alpträumen. Fairerweise muß man sagen, daß die Gujarati durchaus auch andere Gewürze wie Kreuzkümmel oder Chili anwenden können, aber eben immer nur gemeinsam mit Zucker. Seufz.
In Gujarat gibt es viele Restaurants, die im wesentlichen nur ein Menü anbeten: Thali, also (Metall)teller. Diese Lokale nennen sich gerne etwas hochtrabend “dining hall” und bieten billiges und reichhaltiges Essen für Berufstätige. Meist bekommt man ungefähr vier verschiedene Speisen, typischerweise einmal Linsen, einmal andere Hülsenfrüchte, einmal Kartoffeln und was der Markt jahreszeitlich bedingt eben noch hergibt; dazu kommen noch ReisBeschreibung Reis ist ein Getreide, das bereits vor 7000 Jahren... und Brot. Die Zubereitungsart wechselt täglich, so daß man auch ohne Langweile zum Stammkunden werden kann. Dienstbare Geister laufen durch die Halle, um alles nachzufüllen, denn man darf immer bis zur Sättigung essen. Ein solches Thali kostet typischerweise weit unter einem Euro; Getränke außer Leitungswasser gibt es meist gar keine, und diese auf Massendurchsatz angelegten Lokale tun sich auch meistens schwer, mir größere Mengen Tee aufzutreiben.
Und so habe ich in den letzten Tagen gegessen: Gewöhnlichen Linsenbrei (gezuckert), scharfen Kartoffelcurry (gezuckert), geschmorte AuberginenHerkunft Mittelmeerraum, Indien Beschreibung Auberginen sind - wie der Beiname... (gezuckert), würzige Schwarzaugenbohnen (gezuckert), KichererbsenHerkunft Kleinasien Beschreibung Erbsen gehören bei uns zu den am... in Zuckersauce, trockene Kichererbsen (erfreulicherweise ungezuckert) und ein sehr fruchtiges Gericht aus geschmorten Tomaten, das optisch ein bißchen italienisch wirkt, aber bis zur Sirupgrenze gezuckert ist. Es erinnert ein bißchen an das ebenfalls süße Tomatenchutney aus Orissa, das ich in Gopalpur so gerne gegessen hatte, ist aber viel zuckriger und enthält kein Panch Phoron, dafür aber zugegebenermaßen ganz impressive halbverkohlte Chilies.
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