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Etappe 11 – Kilometer 82

Von lebensgefährlichen Knittelversen, sexbegeisterten Doktoren und mumifizierten Granatäpfeln 

der National Highway 1A führt von Srinagar über Jammu weiter in den Punjab. Der Abschnitt ziwischen Srinagar und Jammu ist aus drei Gründen so interessant, daß ich ihm einen eigenen Brief widme: Erstens bietet er beträchtliche landschaftliche Schönheit, zweitens hohen Unterhaltungswert und drittens kann man ein ganz spezielles Gewürz bestaunen. Ach ja, zu essen gibt es auch etwas. Aber nun alles der Reihe nach.

Zwischen Jammu und Srinagar verkehren reguläre Busse der staatlichen Busgesellschaft JKRTC (J&K Road Transport Corporation), private Minibusse und Jeeps, typischerweise des Typs Sumo, der auch als „indischer Hummer“ bezeichnet wird. Erstere fallen allerdings zur Zeit flach, weil seit Wochen gestreikt wird – angeblich haben die Angestellten monatelang kein Geld gesehen. Deshalb drängen sich in der Morgen- und Abenddämmerung die Minibusse und Jeeps am Lal Chowk, einem großen Marktplatz in der Neustadt von Srinagar, und die Fahrer werben lautstark um Fahrgäste, obwohl natürlich alle dieselben Preise und Fahrzeiten anbieten, allenfalls können Extras wie “Front seat, sir!” als Alleinstellungsmerkmale dienen. Der Vordersitz hat zwar die beste Aussicht, ist aber auch mit zwei Nachteilen behaftet: Erstens muß man immer aufstehen, wenn irgendjemand raus- oder reinwill (und das kommt öfter vor als man glauben mag), und zweitens hat man bei einem Unfall die ganz schlechten Karten.

Der Jawahar-Tunnel

Das mit dem Unfall ist keine hypothetische Überlegung, sondern eine ganz handfeste, realistische Option. Alle paar Kilometer sieht man ein mehr oder minder ramponiertes Fahrzeug, das bestimmt noch nicht lange dort liegt, und auch die vielen abstrakten Gemälde am Straßenbelag, die einmal sehr lebendige Hunde oder Affen gewesen sind, geben zu denken. Solange sie leben, sind die Affen übrigens richtige Truckspotter, die den ganzen Tag im Familienverband am Straßenrand herumlungern und offenbar die vorbeirauschenden Fahrzeuge zählen, wenn sie nicht gerade ein possierliches (und ziemlich ablenkendes) Affentheater aufführen.

“Be careful on my curves” © BRO

Die BRO (Border Roads Organization), die für Ausbau und Instandhaltung der militärisch wichtigen Straßen im Grenzgebiet zuständig ist, fühlt sich offenbar auch der Verkehrssicherheit verpflichtet und hat ihre eigene Methode, auf das Fahrverhalten der Kamikaze- äh, Truckfahrer einzuwirken: In kurzen Abständen pinselt sie gelbe Warnungen an die Felswände oder stellt Schilder auf, deren eindringliche Warnungen zwecks Mnemotechnick in Form von Wortspielen oder Knittelversen verfaßt sind: “Drinking whisky – driving risky” (könnte man auch in Österreich aufstellen, eventuell als „Zuviel Wein endet das Sein“), “Driving is a pleasure with leisure” oder “This is the valley not a ralley” blieben mir versbedingt in Erinnerung, während Freunde von Alliterationen mit “Always alert, avoid accident” bedient werden und “Life is a journey – complete it” ohnehin wie ein fernöstlicher Weisheitsspruch aus dem Munde des Konfuzius wirkt. Mein Spitzenreiter war aber “Better Mr. Late than a late Mr”. Ob das wirklich der Konzentration dienen kann oder nur das Zwerchfell unnötig belastet?

Der hilfreiche Dr. Bengali

Wenn ich schon beim Thema „propagandistische Straßendekoration“ bin, dann muß ich Dir auch Dr. Bengali vorstellen. Persönlich habe ich ihn zwar nie kennengelernt, aber die Werbung für diesen (vermute ich) tonischen Stärkungstrank findet man überall im J&K-Staat. Obwohl alle handgemalt, erscheinen diese Reklamen erstaunlich einheitlich, ganz verpflichtet einer Schreibmaschinen-und-Leuchtstift-Ästhetik; Variation findet man nur bei der ersten Zeile, die auch “Get Energy in 7 days” oder so ähnlich heißen kann, aber natürlich klingt “Solve your SEX problems” schon knackiger. Im islamischen Kashmir darf man über „solche Dinge“ offenbar durchaus reden, zumindest im medizinischen Kontext; dazu passend fand ich auch an einer Arztpraxis in Srinagar die Aufschrift “Skin and Sex Consultant”. Das muß ein interessanter Beruf sein, dachte ich im Vorbeigehen.

Granatapfelplantage

Abgesehen von der Dekoration gibt die Straße aber auch landschaftlich durchaus etwas her. Das Pir-Panjal-Gebirge, das das Srinagar-Tal nach Süden hin begrenzt, wird mit dem Jawahar-Tunnel durchstochen, und danach führt die Straße durch dünnbesiedeltes Gebirgsland, oft schräg entlang halsbrecherisch steiler Hänge, mit der Option, binnen weniger Sekunden gut fünfhundert Höhenmeter ohne jedes störende Hindernis „abzusteigen“. Allmählich verschwinden dann die Moscheen und in Urdu-Schrift bemalten Geschäftsschilder, und man trifft wieder auf Hindu-Tempel und indische Schriftzeichen; dann sind es aber immer ein bis zwei Stunden bis nach Jammu. Ein Bus braucht für die ganzen 262 km etwa 10 Stunden.

Aufgeschnittener Granatapfel

Als ich die Strecke im Jänner zurücklegte, fiel mir sonst nichts Besonderes auf; manchmal bin ich eben doch ein blindes Huhn. Diesmal sah ich in der Nähe von km 130 (gemessen von Jammu) ein paar Granatäpfelsträucher stehen, noch ehe das Schild “You are passing the famous anardana plantations” vorbeihuschte. Und dann war mir plötzlich klar, daß offenbar hier eines der am wenigsten bekannten Gewürze Nordindiens herkommt: Getrocknete Granatapfelsamen, die in einer Handvoll nordindischer Rezepte als Quelle von Säure dienen. Gestern besuchte ich diese Pflanzungen auf einem langen Eintagesausflug von Jammu aus nochmals, bei km 82, wo (wie ich auf Fahrt nach Jammu bemerkt hatte) die letzten Sträucher stehen.

Granatapfel am Strauch

Der Zeitpunk ist natürlich sehr ungünstig: Die Ernte liegt ca. 2 Monate zurück, und folglich machen die Sträucher einen von Früchten, Blättern und guten Geistern eher verlassenen Eindruck. Manche ragen aber auch noch ein paar Früchte, die meist vom Schimmel gekennzeichnet sind, und gelegentlich trifft man sogar noch auf eine fast frische Frucht, offenbar einen Nachzügler. Obwohl die meisten Sträucher mittlerweile alle Blätter abgeworfen haben, tragen ein paar gelbes, verwelktes Laub, und einige stehen auch noch im satten Grün da. Offenbar ist die ganze Population genetisch ziemlich uneinheitlich, das merkt man auch dan der variablen Fruchtgröße und an den unterschiedlich langen Dornen (aber waffenlos wie die Kultursorten ist keiner).

Fast mumifizierter Granatapfel

Die meist nicht mehr als 3 cm großen Früchte enthalten die üblichen fleischig–saftigen, blaßrosa bis leuchtendroten Samenkörner, deren Geschmack allerdings jede Zitrone als Obst für Weicheier deklassiert. Die intensive Säure kommt gepaart mit einer mörderischen Adstringenz, aber das liegt vielleicht auch nur an der Jahreszeit, denn an den getrockneten, als Gewürz verkauften Granatapfelsamen habe ich diese Note nie in diesem Ausmaß festgestellt.  Die getrockneten Samen werden in der nordindischen Küche verstreut verwendet: Zu Pickles und Chutneys, zu Gemüsecurries und Hülsenfrüchten, und in der mogulischen Küche auch zu Fleisch.

Schild einer Teestube: In Indien isst man im „Hotel“ und schläft in der „Lodge“

Die Straße ist gesäumt mit kleinen Imbißbuden, sie sich häufig bescheiden „Vaishno Dhaba“, häufig aber auch (für Nicht-Inder überraschend) „Hotel“ nennen; diese Buden leben alle vom Durchzugsverkehr, denn jeder Bus von Srinagr nach Jammu muß irgendwann einmal Station machen, und oft tun es auch solche mit kürzerer Fahrzeit. Die Speisen sind einfach aber in aller Regel gut; Hülsenfrüchte schmecken mir hier ganz besonders, für die ist ja der Nordwesten besonders berühmt (das ist aber einen eigenen Brief wert). Auf der letzten Fahrt hatte ich zuerst nicht verstanden, warum der Busfahrer sich mit Verschwörermiene zu mir an den Tisch gesetzt hatte und mir unbedingt noch ein (sehr gutes) Bohnengericht „rajma“ aufschwatzte. Alles wurde dann beim Bezahlen klar: Der Chauffeur und alle bei ihm am Tisch essen nämlich gratis. Herzlichen Dank auf diesem Wege!

Der Maisgrieß wird geröstet…

Eine typisch kashmirische Spezialität, die man besonders in den ganz besonders einfachen Imbißbuden finden kann, ist der Salztee, nun chai. Er wird aus Salz (manchmal auch Soda), Schwarztee und Milch im wesentlichen wie indischer Milchtee gekocht. Manchmal sieht man auch auch kräftige Fettaugen an der Oberfläche, aber Butter wie bei der tibetischen Version konnte ich eigentlich nie herausschmecken. In dem salzigen Milieu scheint die Milch nicht ganz stabil zu sein, jedenfals ist der Tee immer voller dunkelbrauner Flocken aus geronnenem Milcheiweiß.

… und das ist das fertige Brot makki roti

Die Kashmiri trinken diesen Tee als eine Art starkes Frühstück, oder auch zwischendurch als Snack, und zwar meistens zusammen mit einem Brot namens makki roti, das aus einer Mischung von Weizenmehl und geröstetem Maisgries (satu) geformt und anschließend frittiert wird.

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