Sanfte Sadhus, pilgernde Kühe und ein vegetarischer Exkurs
mit Dvarka oder Dwarka habe ich nun einen richtigen Geheimtip für Indienreisende erreicht. Diese kleine Stadt liegt an der Mündung des Gomati-Flusses im Westen Gujarats und gehört zu den ganz besonders heiligen Orten Indiens.
Die Heiligkeit Dvarkas begründet sich darin, daß nach der Hindu-Überlieferung Krishna hier seine Hauptstadt erbauen ließ, und zwar geschah das gegen Ende des Dvapara-Yuga, des vergangenen Weltzeitalters. Manche Hindus glauben entsprechend, daß die Stadt 5000 Jahre alt sei, obwohl einer anderen Überlieferung nach die Stadt nach Krishnas Tod am Beginn des gegenwärtigen Kali-Yuga im Meer versank.
Im Zentrum der Stadt liegt der Dvarkadhish Mandir, ein herrlicher, im indo–arischen Stil erbauter Tempel mit einem schlanken, himmelhoch aufstrebenden Turm, auf dessen Spitze eine leuchten orangerote Fahne die zahlreichen Pilger begrüßt. Auch wenn das kolportierte Alter von 5000 Jahren historisch nicht zu halten ist, so macht seine erhabene Architektur doch einen enormen Eindruck; tagsüber ist er geschlossen, aber am Abend entfaltet sich ein intensives und sehr friedliches religiöses Leben, wenn die Pilger im Tempel singen oder sich ganz diszipliniert am Eingang zum Allerheiligsten aufstellen und nach dem Besuch der großen Kultstatue ein süßes Prasad verzehren. Leider besteht ein strenges Photoverbot, aber in diesem Fall bringe ich dafür Verständnis auf: Blitzlichtgewitter wäre der Atmosphäre allzu abträglich.
Gleich dahinter bildet der Gomati-Fluß (der Name bedeutet „reich an Kühen“) die Grenze der Stadt; betonierte Stufen (Ghats) führen bis ans Wasser, und abends sieht man schwimmende Kerzen und Pilger bei einer heiligen Waschung. Hundert Meter weiter beginnt bereits der Strand, und der etwas klobige Samudra-Narayan-Tempel markiert die Stelle, an der die Gomati ins Meer mündet. Am Strand sitzen die orangegekleideten Sadhus, indische Asketen, die man auch sonst überall in der Stadt antrifft und die anders als in den meisten Pilgerstädten die paar westlichen Touristen freundlich anlächeln, sie aber nicht aggressiv anbetteln. Außer den Sadhus bleiben auch die vielen Kühe in Erinnerung, die die Straßen entlangtrotten und nach Eßbarem suchen. Hier im Westen Indiens dominieren die Zebus, die massiv gebauten Höckerrinder mit grauer bis weißer Fellfarbe.
Der freundliche Charakter Dvarkas paßt zu Krishna, dem menschlichsten und sympathishsten aller Hindu-Götter, von dem zugleich schwankhafte Erlebnisse mit Kuhhirtinnen, trickreiche Kriegstaten und auch abstrakte, anspruchsvolle Theologie erzählt werden. Er gilt als eine Inkarnation Vishnus, aber nicht wenige Hindus drehen dieses Verhältnis um und sehen in ihm das Höchste Wesen, aus dem Vishnu und in weiterer Folge alle anderen Götter entspringen.
Krishna selbst erklärt seine Natur in der Bhagavad-Gita, dem bekanntesten aller hinduistischen Texte. In diesem „Lied der Gottheit“ gibt Krishna in Dialogform einen Überblick über verschiedene religiöse Praktiken und Philosophien und erläutert, wie man durch abstrakte Erkenntnis, selbstlose Tat und zuletzt Hingabe an ihn stufenweise zur Erlösung emporsteigen kann. Im klimaktischen elften Kapitel offenbart er sich in einer beeindruckenden Theophanie als der Ursprung aller Dinge: Mit den Worten „Sieh hier die ganze Schöpfung, das Leblose und das Belebte, zusammengebunden zu Einem in meiner Person“ fordert er seinen Zuhörer Arjuna auf, ihn unverhüllt zu sehen; Arjuna beschreibt das Gesehene mit den Worten „Alle himmlischen Gefilde und der Raum zwischen Erde und Himmel sind von dir allein erfüllt“.
Danach gibt Krishna noch einige Lektionen über Yoga und Metaphysik, bis er schließlich im achtzehnten und letzten Kapitel in fast biblischem Stil die Erlösung verheißt: „Ich werde dich von allen Sünden befreien; fürchte dich nicht“. Überhaupt könnten viele Sätze der Bhagavad Gita auch im Neuen Testament stehen, oder tun das sogar in ganz ähnlicher Form: „Ich bin der Weg, der Erhalter, der Herr, der Allsehende, die Heimstatt, die Zuflucht und der Freund“ ist ein besonders prägnantes Beispiel.
Natürlich gibt es in Dvarka noch eine Anzahl weiterer Tempel, darunter sogar einen jener ganz wenigen, der dem Brahma geweiht ist. Wirklich erwähnenswert ist aber nur der Rukshmini Mandir etwas außerhalb der Stat; Rukmini war eine Geliebte Krishnas, die er aus einer unglücklichen Verlobung befreite. Überhaupt ist es bemerkenswert, daß Krishna bei der Damenwelt besonders großen Anklang fand und sogar tausende Ehefrauen hatte. Dieser Tempel wird am Nachmittag zum Treffpunkt hunderter Sadhus, die sich ganz friedlich auf den Boden setzen und gemeinsam meditieren, ehe sie sich wieder aufmachen, um in einer langen orangenValencia, Jaffa Herkunft China (Ursprung), heute vor allem aus Spanien,... Schlange zur Stadt zurückzuwandern.
Beim Herumspazieren in Dvarka habe ich nichts gefunden, was darauf deuten könnte, daß die Menschen hier jemals Fleisch essen: Kein Restaurant wirbt mit dem sonst so allgegenwärtigen “Veg. & Non-Veg”, es gibt keine Fleischhauer oder Geflügelhändler, nicht einmal Eier habe ich irgendwo gesehen. Praktisch fleischfreie heilige Städte gibt es in Nordindien einige, und ich werde das zum Anlaß nehmen, einen historischen Exkurs über den Vegetarismus in Indien anzufügen. Das erspart es mir auch, meine süßen Traumata mit der Gujarati-Küche weiter ausbreiten zu müssen.
Originär hat die vegetarische Ernährung nichts mit dem Hinduismus zu tun: In seiner frühen, vedischen Form waren ihm zwar die Kühe heilig, anderes Getier galt aber als unbedenklich eßbar. In der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausend vor Christus wurde der Hinduismus (in der damaligen Entwicklungsstufe auch als Brahmanismus bezeichnet) allerdings von zwei anderen Religionen für einige Jahrhunderte an den Rand gedrängt, die beide in unterschiedlicher Intensität den Fleischkonsum verboten: Buddhismus und vor allem Jainismus.
Letztlich behielt der Hinduismus die Oberhand und ging aus dem ideologischen Konflikt als Sieger hervor: Die Buddhisten, die in späthellenistischer Zeit noch die Mehrheit in Nordindien gestellt hatten, starben völlig aus, und die über ganz Indien verbreiteten Jains konnten sich nur im Nordwesten in größerer Zahl erhalten. Aber der neue, puranische Hinduismus war gegenüber seinem Vorläufer so drastisch verändert, daß man fast von einer Neuerfindung sprechen kann: Einige seiner zentralen Konzepte waren ganz neu, wie zum Beispiel der Vegetarismus als Fremdimport oder der Yoga und das damit zusammenhängende Konzept einer streng regelmentierten persönlichen Hingabe an Gott (Bhakti). Andere Innovationen wurden dagegen aus Gedankengängen entwickelt, die in der brahmanistischen Epoche nur Randeffekte gewesen waren.
Zu letzteren gehört übrigens der Monotheismus. Im Vedanta, der philosophischen Analyse der vedischen Überlieferungen, hatte es zwar schon immer eine monotheistische Strömung gegeben, aber die war gegenüber anderen Interpretation nie dominant geworden; heute betrachten dagegen die meisten gebildeten Hindus alle Götter als Teilaspekte eines Höchsten Wesens, das wahlweise mit Shiva, Vishnu (und, in Erweiterung, Krishna) oder einem abstrakten Prinzip (etwa Shakti, der „weiblichen Energie“, oder Brahman, der allumfassenden Seele des Universums) gleichgesetzt wird. “The gods are just ministers of God” erklärte mir dazu ein Brahmane in Jammu, der offenbar das bürokratische Denken im modernen Indien sehr verinnerlicht hatte.
Alle Inder essen viel mehr Gemüse als typische Mitteleuropäer, was natürlich auch finanzielle Gründe hat. Hindus düfen kein Rind essen (und die meisten halten sich auch daran), aber genereller Vegetarismus ist für die niedrigen Kasten nur empfohlen, nicht vorgeschrieben. Viele halten sich an die Empfehlung, besonders hier im Gujarat; umgekehrt gibt es aber auch einige Brahmanen, die es es mit der Fleischlosigkeit nicht so genau nehmen und zumindest Fisch verzehren (das ist in Bengalen üblich); in Kashmir gibt es sogar eine brahmanische Gruppe, die generell Fleisch ißt. Bei Eiern scheiden sich die Geister, und Milchprodukte werden trotz ihres höheren Preises universell genossen, gelten sie doch als besonders rein, weil sie vom Heiligen Tier stammen.
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