Ein Hafen mit Reinigungssystem, ein Hafenoberwachtmeister und ziemlich alte Kichererbsen
heute habe ich einen Tagesausflug nach Lothal unternommen. Dieser Ort liegt 80 km westlich von Amdavad, nahe am Golf von Cambay, und gehört zu den bedeutendsten Ausgrabungsstätten der Industal-Kultur in Indien.
Lothal wurde im dritten Jahrtausend vor Christus als Hafenort gegründet – eigentlich war es kaum mehr als eine winzige Ansiedlung rund um die Bauten der Hafen- und Handelsbehörden. Man schätzt, daß zu seiner Blütezeit kaum 500 Menschen dort gelebt haben, allerdings sind die Wohnbezirke noch nicht ausgegraben. Dafür sind einige Handwerksbetriebe und die mit dem Funktionieren des Hafens zusammenhängenden Gebäude freigelegt. Nichts davon ist sehr beeindruckend: Die ganze „Stadt“ hat einen ziemlich zwergenhaften Durchmesser von knapp 300 m, und der Erhaltungsgrad ist dem Alter entsprechend sehr schlecht. Allerdings hat der Archeological Survey of India mit seinem Hang zur Überrestaurierung einige Fundamente wieder aufbetoniert, so daß man einen gewissen Eindruck bekommt.
Lothal liegt inmitten von Baumwollplantagen mehr als 15 km von der Küste entfernt; aber in der Bronzezeit lag es an der Mündung eines mittlerweile verschwundenen Flusses, und zwar noch innerhalb der Gezeitenzone. Das erlaubte die Konstruktion eines raffinierten, 200 m langen Hafenbeckens, das nur bei Flut oder Hochwasser mit dem Fluß verbunden war und folglich eine außerordentlich sichere und saubere Anlegestelle bot: Bei Flut drang das Flußwasser über eine Schwelle in das Becken ein und schob das alte, abgestandene Wasser vom Vortag durch einen gegenüberliegenden Abfluß wieder zurück in den Fluß. Die Wände des Beckens waren mit Millionen gebrannter Lehmziegel aufwendig konstruiert.
Das interessanteste Gebäude ist das sogenannte „Warenhaus“, das zur Zwischenlagerung aller exportierten oder importierten Güter diente. Es war überschwemmungssicher auf einer 3 m hohen, gemauerten Plattform errichtet und enthielt in seinem Inneren 64 quadratische Sockel, auf denen wahrscheinlich hölzerne Aufbauten standen, die jeweils die Ladung eines Schiffes aufnehmen konnten. Wahrscheinlich wurden alle umgeschlagene Waren hier von der Hafenbürokratie erfaßt und gegebenenfalls verzollt bzw. beglaubigt. Man fand dort auch eine Anzahl der berühmten Industal-Siegel.
Ebenfalls leicht erhöht steht die sogenannte Akropolis, die aus der Wohnung des „Königs“ (wohl eher: Hafenoberwachtmeister), Verwaltungsgebäuden und einer Reihe von Bädern besteht. Dieser Teil ist sehr schlecht erhalten, aber man kann die ausgeklügelte Kanalisationsanlage bewundern, die einen Vergleich mit modernen Installationen nicht scheuen muß: Alle Ausflüsse aus dem „Palast“ oder den Bädern liefen zunächst durch eine Kammer, in der sich festes Material absetzte, und erst danach in die zentrale Kloake. Diese Kammern waren offenbar zur Inspektion und Säuberung leicht zugänglich und zum etwaigen Nachspülen mit großen Keramikgefäßen ausgerüstet.
Die Industal-Kultur (IVC) oder Harappa-Zivilisation gehört zu den großen Rätseln der Bronzezeit. In ihrer Blütephase in der zweiten Hälfte des dritten Jahrtausends brachte sie urbane Metropolen mit so überraschend modernen Features wie einem zentralen Abwassersystem und planmäßig angelegten Stadtvierteln hervor. Die Fundstellen erstrecken sich über ein riesiges Gebiet von Afghanistan bis an die indische Westküste, aber die Mehrzahl der Ausgrabungsstätten liegt im heutigen Pakistan, das mit Mohenjo-daro, Harappa und Mehrgarh auch die drei wichtigsten Einzelorte beherbergt.
Vieles an der IVC widerspricht jenen Paradigmata, denen die frühen Hochkulturen in Ägypten, Mesopotamien und China offenbar blind folgten: Trotz des Namens scheinen Flüsse keine besondere Rolle in der Landwirtschaft gespielt zu haben, jedenfalls hat man keine Bewässerungsanlagen finden können – genau die, so die landläufige These, stehen aber am Anfang jeder urbanen Hochkultur, weil ihre Konstruktion eine starke zentrale Macht erfordere und damit staatliche Strukturen erzwinge. Weitere Absonderlichkeiten sind das Fehlen von monumentalen Befestigungs-, Tempel- oder Palastanlagen in den Städten, die das Bild einer friedlichen und vergleichsweise egalitären Kultur heraufbeschwören, ganz im Gegensatz zu den gut dokumentierten Verhältnissen in anderen Hochkulturen. Und auch der Untergang der IVC etwa um das Jahr 1900 harrt noch einer Erklärung – Kriegshandlungen scheinen dabei allerdings keine Rolle gespielt zu haben.
Ein Grund dafür, weshalb wir über die IVC so wenig wissen, ist die vollständige Abwesenheit schriftlicher Informationen. Einerseits hatten die Harappaner zwar über den See- und Landhandel Kontakt bis nach Mesopotamien bzw. Zentralasien, und sind möglicherweise auch in Keilschrift-Texten unter dem Namen Meluḫḫa erwähnt, andererseits hat kein Fremder je die Industal-Städte besucht und uns Aufzeichnungen darüber hinterlassen, und da die Industal-Städte auch keine Kriege mit anderen Völkern (vielleicht nicht einmal untereinander) führten, nahm die äußere Welt offenbar nicht viel Notiz von ihnen.
Die sogenannten „Industalschrift“, die uns vorwiegend von Siegeln erhalten ist, kann niemand lesen, und in den letzten Jahren kamen beträchtliche Zweifel daran auf, ob ihre etwa 400 verschiedenen Zeichen wirklich eine Schrift im eigentlichen Sinne bildeten, oder ob es sich eher um nichtlinguistische Symbole mit Bezug zu Religion und Mythologie handelt. Welche Sprache oder Sprachen diese Menschen gesprochen haben könnten, ist ohnehin schwer zu rekonstruieren; die traditionelle Annahme eines dravidischen Idioms wird heute durch eine gut begründbare Gegenthese herausgefordert, wonach die IVC-Sprache ein weitläufiger Verwandter der Munda-Sprachen sein könnte, die heute vorwiegend im Nordosten von Stammesgruppen gesprochen werden. Zuletzt ist es bei der bis heute intensiv multilingualen Situation Indiens und der riesigen Ausdehnung der Kultur gar nicht sicher, ob man überhaupt von „einer IVC-Sprache“ sprechen kann.
Folglich lernen wir über die Industal-Kultur am meisten aus archäologischen Ausgrabungen – von ihrem reichen Gold- und Glasperlenschmuck, von ihren zwar seltenen aber sehr schönen Plastiken, und erfreulicherweise auch von ihrer Ernährung. Weizen und Gerste waren die Hauptgetreide, während der Reisanbau in Nordindien erst für das zweite Jahrtausend nachgewiesen ist; der Ackerbau steuerte auch Proteine (ErbsenHerkunft Kleinasien Beschreibung Erbsen gehören bei uns zu den am..., Kichererbsen) und Fette (Senf, Sesam, möglicherweise auch Baumwolle) bei. Tierische Nahrungsmittel wurden gerne gegessen, wie Knochenansamlungen von Hühnern, Schafen, Schweinen und Buckelrindern bezeugen, und offenbar beherrschte man Konservierung durch Einsalzen oder Pökeln, da Fischgräten auch in weit landeinwärts gelegenen Städten ausgegraben wurden.
Die Arier, die irgendwann im Laufe der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends nach Indien einwanderten, fanden von der IVC wohl nur noch verlassene oder in Auflösung begriffene Städte vor. Ihre überwiegend nicht materiell, sondern aus literarischen Zeugnissen erhaltene Kultur drehte sich um halbnomadisches Leben, pferdegezogene Streitwagen und zahlreiche Clans, die in ständig wechselnden Allianzen gegeneinader in den Krieg zogen, und bildet damit die fast perfekte Antithese zur urbanen, maritimen und friedlichen Industal-Kultur. Es ist umstritten, in welchem Ausmaß das Erbe der IVC in spätere Zeiten überdauerte, doch nimmt man allgemein an, daß das viergliedrige Kastensystem aus dem Kontakt der Arier (deren Gesellschaft wahrscheinlich nur drei Stände kannte) mit der ansässigen Bevölkerung entstand, die als vierte Kaste in das System eingegliedert wurde. Manche haben auch spekuliert, daß einige hinduistische Götter (vor allem Shiva) und die für Indien typischen meditative Praktiken aus der IVC-Religion stammten, allerdings ist die Beweislage hier relativ dürr.
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